Die Vorfälle an Silvester in Köln sind schon als vieles bezeichnet worden: Als Zäsur, als Wendepunkt, als Katastrophe, als Marginalie, als Ausnahmesituation und als Normalfall. Mit scheint aber, dass sich in der darauf folgenden gesellschaftlichen Diskussion, die sich bald von Köln zum Flüchtlingsthema allgemein wandelte, vor allem eines gezeigt hat: Wie tief gespalten unsere Gesellschaft mittlerweile ist.
Konservative und Linke stehen sich fast unversöhnlich gegenüber, wobei mancher Alt-Linke sich in der Flüchtlingsfrage unversehens im konservativen Lager wiederfindet und mancher konservative Ordensmann plötzlich im linken Lager.
Nun mag man einwenden, dass das alles so Neues nichts ist und eine Spaltung der Gesellschaft schon häufig vorkam. Das stimmt. Nur ist das kein erstrebenswerter Zustand. Wer immer in den 70ern in Folge des RAF-Terrors die Spaltung der Gesellschaft erlebt hat, berichtet, wie erleichternd es war, als sich die Lage in den 80ern langsam normalisierte. Und, auch wenn das nun manchem hochgestapelt vorkommen mag, den meisten kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten paar 100 Jahre ging eine tief gespaltene Gesellschaft voraus.
Ich selbst sah und sehe mich in beiden Lagern nicht klar positioniert, habe in den vergangenen Monaten mit vielen Personen gesprochen und viel dazu gelesen. Was ich nachfolgend schreibe, basiert also auf meinen subjektiven Eindrücken.
Personen mit eher konservativer Grundeinstellung sind irritiert. Jahrelang, wenn nicht jahrzehntelang wurden sie von eben dem anderen „Lager“ scharf angegriffen, kritisiert für allzu traditionalistische Vorstellungen, für ein Hochhalten der Ehe als einzige Lebens- bzw. Familienform, für eine enge Moral und starre Religiosität, für die Ablehnung der Homo-Ehe, für Homophobie und Rückwärtsgewandtheit.
Konservative, auch das muss man sehen, haben sich in ihrer Mehrheit bewegt in diesen Fragen. Bis auf schmale extreme Ränder finden sich, auch wenn das nun wie eine Selbstverständlichkeit klingt, in unserer Gesellschaft kaum noch Personen, die etwa Schwule und Lesben, Transfrauen und -männer körperlich angreifen, brutal beschimpfen, als „Schande für die Familie“ o. ä. bezeichnen. Und gibt es sie, so geraten sie, anders als in anderen Gesellschaften, schnell in die Defensive (und das völlig zu Recht!). Dass „Frauen an den Herd gehören“ und „Männer raus ins Leben“ liest man zwar öfter noch, aber meist immerhin bereits in abgeschwächter Form. Patchworkfamilien müssen sich nicht mehr verstecken, Geschiedenen haftet kein Stigma mehr an und uneheliche Kinder werden schon lange nicht mehr ausgelacht. Es gibt eine vergleichsweise hohe Akzeptanz für andere Religionen als das Christentum und selbstverständlich auch für Menschen ohne Bekenntnis.
Die Mitte einer Gesellschaft konstituiert sich von ihren Rändern her und diese Ränder sind in unserer Gesellschaft bisher, nach jahrzehntelanger Arbeit, weitaus weniger extrem gewesen als andernorts, wo es oft quasi als „normal“ gilt, Menschen anderer Religionen bzw. ohne Religion zumindest misstrauisch zu beäugen, zu diskriminieren, ledige Mütter und deren Kinder zu beschimpfen, Schwule und Lesben für krank zu halten, Transmenschen auf offener Straße anzugreifen oder Menschen, die sich nicht geschlechtsspezifisch kleiden oder geben, anzufeinden und auszuschließen.
Insofern, so mein Eindruck, sind Konservative sehr irritiert, wenn nun Menschen, die sie jahrelang für o. g Positionen kritisiert und diese bekämpft haben, auf einmal frenetischen Applaus spenden für Menschen, die aus Gesellschaften kommen, die in ihrer Mitte weit radikaler und konservativer denken, als erstere es jemals getan haben. Da sich Konservative hierzulande in den meisten Fragen bewegt haben, denken sie in fast allen Fällen z. B. in der Frage von LGBT-Lebensstilen weniger konservativ als viele Menschen aus Russland, Syrien, dem Irak, dem Kosovo, der Ukraine …
Darum, und eben darum, irritiert sie die Willkommenskultur so derart. Natürlich gibt es auch Menschen mit rassistischer Haltung, aber in den meisten Fällen sind mir in den letzten Monaten Menschen begegnet, die zutiefst verunsichert darüber waren, dass plötzlich eine wesentlich konservativere Haltung als ihre eigene Fuß fasst oder sie das zumindest befürchten.
Auf der anderen Seite sind Menschen mit eher linker Grundeinstellung irritiert. Dieselben Menschen, die jahrzehntelang konservative Positionen verteidigt haben, Werte wie Familie und Religion hochgehalten haben, sie ausgelacht, politisch bekämpft oder gar beschimpft haben, gerieren sich nun als Vorkämpfer für „linke“ Werte?
Menschen, die das diffamierende Wort „Gutmenschen“ für sie geprägt haben, wollen auf einmal die Rechte von Homosexuellen, Frauen, anderen Religionen, Religionslosen verteidigen?
Eigentlich müssten Personen mit konservativer Grundeinstellung doch glücklich sein über konservative Einstellungen bei Migranten und Flüchtlingen? Warum also sind sie es nicht?
Schnell schleicht sich da der Verdacht ein, die tieferliegenden Gründe müssten eigentlich in der konservativen Grundeinstellung der betreffenden Personen liegen und damit in Rassismus, denn bisher haben mitnichten die Personen, die sich jetzt dafür einsetzen, solche Werte verteidigt. Im Gegenteil, man selbst wurde teils wüst angegriffen für den Einsatz für Religionsfreiheit, verschiedene Familienformen, die Rechte von Frauen und LGBT-Menschen.
Sie fürchten zudem, wenn sie die Argumente „der anderen“ aufgreifen oder Verständnis dafür zeigen, könnte das Fremdenfeindlichkeit und Rassismus Tür und Tor öffnen.
Und so werfen sich beide Gruppen Doppelmoral vor, toben die Grabenkämpfe, wütet man gegeneinander, ohne je wirklich miteinander zu reden. Ein Kampf der, so scheint mir zumindest, eigentlich auf einem tiefen Missverständnis und vielen, teils sehr alten, Wunden beruht.
Es wäre, scheint mir, an der Zeit, dass beide Lager aufeinander zugehen, sich Fehler eingestehen und gemeinsam an einer Lösung arbeiten.
Konservative müssten vielleicht zugestehen, dass ihnen verschiedene „linke“ Werte ans Herz gewachsen sind, dass offenbar „die anderen“ in der Vergangenheit mit einigen Dingen so unrecht nicht hatten. Dass eine pluralistische, freiheitliche Gesellschaft das ist, was sie offenbar auch wollen. Eine Gesellschaft, in der konservative Werte ihren Platz haben, aber diese nicht die einzig mögliche, „seligmachende“ Lebensform sind.
Linke dagegen sollten sich wohl vom generellen Rassismusvorwurf lösen, er trifft eben vielfach nicht zu und zugestehen, dass es tatsächlich Probleme mit sehr konservativen, manchmal unserer Gesellschaft und unseren Werten gegenüber feindlichen Positionen bei Migrantengruppen gibt, die unserer freiheitlichen-demokratischen Wertordnung entgegenstehen. Und das nicht als Rassismus begreifen, sondern als Problemstellung, die es zu lösen gilt (was natürlich nicht dedeutet, dass man sich tatsächlich rassistischen Positionen anschließen soll).
Zudem sollten beide Gruppen sich im Gespräch immer deutlich von radikalen Positionen distanzieren: Die einen von rechtsradikalen und allzu radikal-konservatistischen, die anderen von islamistischen sowie von linksradikalen Positionen. Vielfach habe ich gehört und gelesen, das „verstünde sich ja von selbst“. Aber so ist es nicht. Wenn man sich von den radikalen Ausprägungen der jeweils anderen Gruppe distanziert, sollte man sich immer auch deutlich von denen distanzieren, die im eigenen Meinungsspektrum vorkommen. Das erleichtert das gegenseitige Verständnis einfach sehr und entschärft die Diskussion.
Nicht mehr miteinander zu reden dagegen, das Gespräch zu blocken, sich gegenseitig Doppelmoral vorzuwerfen, führt nur zu einer weiteren Vertiefung der Gräben, und dazu, dass die radikalen Ränder immer mehr Zulauf finden. Weil keinerlei gegenseitiges Verständnis mehr stattfindet und der „Austausch“ sich auf Beschimpfungen und Schuldzuweisungen beschränkt.
Ich bezweifle, dass es das ist, was die meisten von uns wollen und vermute eher, dass letztlich eine freiheitliche, friedliche Gesellschaft das ist, was gewünscht ist. Verständnis füreinander zu haben, wäre der erste Schritt dazu.
Und schließlich: Wir haben in den letzten Jahrzehnten als Gesellschaft unheimlich viel erreicht. Das mag jetzt kitschig klingen, aber letztlich war es eine Gemeinschaftsarbeit, die sich durchaus auch aus dem Widerstreit und aus dem immer wieder „Aufeinander Zugehen“ ergeben hat. Es war und ist eine Gesellschaft, in der es sich zu leben lohnt. Sicher noch verbesserungswürdig, aber im Großen und Ganzen ein „gelungenes Projekt“. Und darauf können wir stolz sein und sollten das nicht kaputt machen.